© Karlheinz Heiss
Auszüge aus:
Nachdenken
Texte zu gesellschaftlichen Themen
mit katholischer Relevanz
Die Machtfrage
September 2019
Es sieht aus wie ein gewaltiges Spiel um Macht, wie sich derzeit die
Deutsche Bischofskonferenz und der Vatikan benehmen. Ich frage
mich, was hat es mit dem Macht-Poker und was hat es mit Macht
überhaupt auf sich. Es gibt eine legitime Macht, die wir Bürger*innen
der Legislative (den Parlamenten), der Exekutive (Verwaltungen und
Polizei) und der Jurisdiktion (den Richtern) verleihen. Sie sind in ihrer
Machtausübung rückgebunden an das Volk, wie der Artikel 20 des
Grundgesetzes beschreibt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie
wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere
Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der
Rechtsprechung ausgeübt“. Dies gilt, weil die Bundesrepublik „ein
demokratischer und sozialer Bundesstaat“ ist.
Im katholischen Umfeld sieht die Sachlage anders aus. Hier haben wir
eine Rechtsform, wie wir sie aus der Monarchie kennen. Der Papst als
oberste Instanz, darunter die Kardinäle, Erzbischöfe und Bischöfe. So
richtig stimmen will diese hierarchische Struktur nicht, denn es gibt
auch die Überlegung, dass die Ortsbischöfe als Nachfolger der
Apostel in ihrer Diözese die höchste Instanz sind und der Bischof von
Rom nur der „primus inter pares“, also Erster unter Gleichen sei. Aus
diesem „Primat“ formte das Vatikanum I das „Unfehlbarkeitsdogma“,
das der Entscheidung des Papstes „ex cathedra“ in Glaubens- und
Sittenfrage Unfehlbarkeit bescheinigte.
Das Vatikanum II sprach 1964 der Gesamtheit der Gläubigen
ebenfalls Unfehlbarkeit zu: „Die Gesamtheit der Gläubigen, welche
die Salbung von dem Heiligen haben, kann im Glauben nicht irren“.Es
geht bei der jetzigen Meinungsverschiedenheit zwischen
Bischofskonferenz und Vatikan (noch) nicht um Fragen, die der Papst
ex cathedra bestimmen müsste. Allerdings ist die Frage der Rolle der
Frau in der Kirche heikel, viel heikler als die Frage des Zölibats.
Der Adel regiert nicht mehr, das Abendland ist nicht unter gegangen
„Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen“, mit solchen
Aussagen versuchte dieser hohe Repräsentant des deutschen Adels
seine Machtaus-übung zu legitimieren, mit der Rückbindung an die
Gnade Gottes. Das ist noch gar nicht so lange her. Viele dachten,
wenn der Adel nicht mehr regiert, geht das Abendland unter. Nun
haben wir 100 Jahre ohne Adel überstanden, davon die letzten 70
Jahre ohne Krieg in Europa. Offensichtlich funktioniert eine
Gesellschaft auch und wohl besser, wenn Macht über Wahlen
ausgeübt wird.
Gehen wir zurück zur Situation der katholischen Kirche in
Deutschland und schauen in unsere Diözese. Natürlich hat Dr.
Gebhard Fürst Macht, schließlich ist er als Bischof Vorgesetzter vieler
Frauen und Männer. Dies lässt sich auch aus dem Organigramm der
diözesanen Verwaltung gut ersehen. Hier kann er Macht ausüben,
legitime Macht, begründet aus seiner Position in der
Organisationsstruktur. Er hat auch die Weihevollmacht, er kann
Priester, Diakone, Kirchen und Altäre weihen. Er spendet das
Firmsakrament, er kann als Bischof einer Gemeinde vorstehen und
die Eucharistie feiern, er kann die Beichte abnehmen. Zeichen seiner
Macht.
Und doch sieht er sich einem gewaltigen Machtverlust gegenüber:
Wenn immer mehr Menschen die Kirche verlassen, dann schwinden
die Kirchensteuereinnahmen. Die Folge: Personal muss abgebaut
werden. Der Auszug der Menschen aus den Gotteshäusern ist längst
Tatsache: Statt Altarweihen stehen Rückbaumaßnahmen an. Priester
und Diakone kann er nur weihen, wenn sich Menschen bereitfinden,
in den Dienst der Kirche zu treten. Auch hier schwinden die
Ressourcen. Die Beichte? Hand aufs Herz, wann war das letzte
Beichtgespräch? Und eine Messe zusammen mit dem Bischof? Auch
da lässt die Strahlkraft deutlich nach.
Von Galen – ein fürstlicher Bischof
Vor kurzem habe ich eine historische Aufnahme gesehen, die Bischof
Galen gezeigt hat, ganz genau gesagt: Clemens Augustinus Joseph
Emmanuel Pius Antonius Hubertus Marie Graf von Galen, Bischof von
Münster zwischen 1933 und 1946 und Kardinal. Es war ein stattlicher,
fürstlicher Auftritt, der in seinem Prunk mehr als befremdlich war.
Damals hatte ein Bischof noch Macht. Sein Wort galt in der
Gesellschaft, wer sich seinen Bann zuzog, dem blieb nur der Wegzug
oder die Konversion. Auch auf die Gemeindeebene herunter
gebrochen galt dies: Die Macht in der Gemeinde war konzentriert in
der Dreieinigkeit von Bürgermeister, Lehrer und Pfarrer.
Heute? Entscheidungen von Bürgermeistern werden mit
Bürgerentscheiden weggefegt, Lehrer will niemand mehr werden und
Pfarrer schon gar nicht. Macht macht sexy; wenn sie verlustig geht,
kümmert sich bald niemand mehr um die einstigen Machtmenschen.
Aus diesem Blickwinkel erscheint der pressewirksame Machtpoker
zwischen deutscher Kirche und Rom seltsam unwirklich, wie eine
Episode aus einem Mittelalter-Epos. Und anachronistisch zur Gestalt
und zum Wirken des Jesus von Nazareth, dessen Ohnmacht am Kreuz
in allen Kirchen zu sehen ist.
Die Würde des Menschen
ist unantastbar
November 2019
Zugegeben, täglich schaue ich voller Spannung auf die News, die vom
Impeachmentverfahren gegen Donald Trump berichten. Täglich
staune ich auch, wie wenig die Menschen in Amerika bereit sind, ihre
Meinung zu einem Thema oder, wie in diesem Fall, einer Person
einem kritischen Reflektieren zu unterziehen. Spannend ist auch, wie
Donald Trump an seiner Überzeugung festhält, grundsätzlich alles
machen zu dürfen, weil er als Präsident unantastbar und
unangreifbar ist. Selbst seine Vertrauten stellt er über das Gesetz: Sie
dürfen nur dann aussagen, wenn er seine Erlaubnis gibt. Ähnlich geht
es mit seiner Steuererklärung. War es bislang üblich, dass der
Präsidentschaftskandidat sie während seiner Kandidaturzeit
veröffentlicht, weigert sich Trump, sein finanzielles Gebahren offen
zu legen. Und seine Anhänger? Sie unterstützen ihn, sie halten an
ihm fest, gehen sogar so weit, dass sie Menschen anderer politischer
Richtung mit Morddrohungen überziehen.
Ist es in der deutschen Gesellschaft
anders?
„Morddrohung gegen Roth und Özdemir“ war neulich in der Zeitung
zu lesen. In der Konsequenz also – Menschen mit anderer politischer
Gesinnung einzuschüchtern – genau gleich. Fake News, konsequentes
Leugnen des Holocaust und Anschläge gegen jüdische Einrichtungen
– schlimm, und nicht alles lässt sich den üblen Machenschaften
Einzelner in die Schuhe schieben. Gesinnung hat meist viele Mütter
und Väter.
Wie sollen wir damit umgehen? Mit den gleichen Waffen
zurückschlagen? Diffamieren, niederschrei(b)en, unterdrücken?
Sicher nicht. Eben weil Gesinnung viele Mütter und Väter hat, sind
wir aufgefordert, für unsere Gesinnung, unsere Haltung einzustehen.
Haltung, das heißt zunächst eine Aussage über unser Menschenbild,
unser Bild vom Gegenüber. Unsere christliche Haltung kann in Vielem
beispielgebend sein. Wer sein Gegenüber und sich als geliebtes
Geschöpf Gottes sieht, nimmt sie/ihn anders wahr. Toleranz mit der
Verschiedenheit, Miteinander statt Machtstrukturen, Partizipation,
Inklusion, Gendergerechtigkeit – all das ist selbstverständlich und
gottgewollt, wenn wir uns als Geschöpfe sehen.
Gesetze regeln unser Zusammenleben
Das heißt aber nicht, dass alles erlaubt ist. Es gibt Gesetze, die unser
Zusammenleben regeln, es gibt Schutzkonzepte, die Missbrauch
vorbeugen sollen, es gibt als Lehre aus der Geschichte die
unbedingte Ausrichtung all unserer Überlegungen auf die „Würde
des Menschen“, die unantastbar ist.
Wenn ich in die USA schaue, dann wäre meine ganz klare Aussage:
Trump muss zurücktreten oder er muss abgesetzt werden, weil sich
nur so das Primat des Gesetzes wieder herstellen lässt. Alles andere
ist für mich undenkbar. Dies gilt auch für Deutschland und es gilt
auch für unsere katholische Kirche.
Das Primat des Gesetzes muss auch in unserer Kirche gelten. Nicht
das falsch ausgelegte Kirchenrecht, das Täter schützt, Mitwisser und
Verschweiger ebenso. Sondern das Gesetz der Offenheit, der
Transparenz, der Achtsamkeit - das Fehlverhalten anspricht und nicht
unter einen bischöflichen Mantel kehrt - das auch das scheinbar
Unmögliche denkbar werden lässt: Die Aufforderung zum Rücktritt
eines Bischofs..
Unwissenheit schützt vor Strafe nicht
Im Bistum Münster rumort es gewaltig: Da wurde ein des
Missbrauchs beschuldigter und verurteilter Priester von Bistum zu
Bistum weiterversetzt, ohne die Kirchengemeinden über die
Verurteilung des Priesters zu informieren. O-Ton aus einer
Veranstaltung in Emsdetten: „Wenn ich höre, dass ein den
Bistumsleitungen bekannter Täter zwischen den Diözesen Köln,
Münster und Essen hin- und hergereicht wird und immer wieder
Kontakt zu Kindern und Jugendlichen hatte, dann wäre der Rücktritt
der beteiligten Bischöfe konsequent.“ Sich auf die Überlegung zurück
zu ziehen, nicht genügend informiert gewesen zu sein, ist
unerträglich und entschuldigt nichts. Wie lehrt uns das Finanzamt:
Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Das gilt auch hier. Ganz egal,
wie gut oder schlecht ein Bischof informiert war, er hat eine
„politische“ Verantwortung für sein Tun und das seiner
Mitarbeiter*innen. Und genau das gilt hier: Wenn ein Bischof es
zulässt oder anordnet, dass ein geständiger oder verurteilter Priester
ohne Wissen der Gemeinde Dienst tun darf (und damit auch mit
Kindern und Jugendlichen in Kontakt kommen kann), dann macht er
sich schuldig. Persönlich, wenn er es wissentlich angeordnet hat –
politisch allemal, weil er der Bischof ist.
Fragen wir noch einmal die Haltung an: Mit welcher Haltung sind die
Bischöfe nach Veröffentlichung der Missbrauchsstudie unterwegs? –
wie gehen sie mit der Frage nach persönlicher und/oder politischer
Verantwortung um? - und die Frage an uns: Welche Haltung und
welches Handeln wünschen wir uns? Ab welchem Grad der
Verantwortung für Dinge in der Vergangenheit wollen wir einem
Bischof den Rücktritt nahelegen?
Wenn wir als katholische Kirche wieder gehört werden wollen, dann
wird das nur sein, wenn man uns abnimmt, dass wir mit beiden
Beinen authentisch auf dem Boden des Evangeliums stehen. Es gibt
viele Gläubige, die haben unserer Kirche den Rücken gekehrt, weil sie
dieses Authentische schmerzlich vermissen. Sie halten es nicht mehr
aus, wie die Kirche, und hier sind insbesondere die Bischöfe gemeint,
mit der Aufarbeitung des Missbrauchs umgeht.
Wer den Blick der Bischöfe Ackermann und Marx noch in Erinnerung
hat auf die Frage einer Journalistin 2018, ob denn ein Bischof
überlegt habe, zurückzutreten, die/der weiß, man kann es niemand
erdenken!
Inhaltsverzeichnis
S. 7
„Hund schießt auf Jäger“
S. 9
Maria 2.0
S. 13
Endlich Urlaub
S. 17
Die Machtfrage
S. 21
Keine Antwort.
S. 25
Die Würde des Menschen ist unantastbar
S. 30
Janus
S. 35
(Deutsche) Sonderwege
S. 41
„Frau gebärt trotz Corona“
S. 44
Donald – der Messias
S. 47
Römische Botschaften
S. 50
Die Istanbul-Konvention
S. 54
Familien in der Kirche im Lichte von „amoris laetitia“
S. 59
„Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln
kann“
S. 62
Jede Zeit braucht ihre Antworten
S. 65
Und es waren Hirten in derselben Gegend
S. 68
Raum für das „Zusammen“-Leben schaffen
S. 71
Loslassen, zulassen und Freiheit spüren
S. 75
Der Familienbund in Coronazeiten
S. 78
Was macht Missbrauch mit Betroffenen und deren Familien?
S. 82
Anhang: Würzburger Appell gegen sexuellen Missbrauch:
Handeln!