© Karlheinz Heiss
Auszug aus:
Schwarze Pädagogik
Gewalterfahrungen in katholischen
Knabenseminaren und Knabenkonvikten
Es war ein kleiner Zwischenruf zu meinem Buch „ein Priester tut
so etwas nicht“, der mich auf die Spur setzte. Ob ich denn abseits
vom Rottweiler Seminar und dem Tagesablauf im Martinihaus
Rottenburg auch recherchiert habe, wie es in anderen bischöflichen
Knabenkonvikten war.
Diese Frage musste ich mir verneinen - interessiert hat es mich
aber schon, schließlich gab es Untersuchungen, wie die Situation
in Heimen überhaupt war. Gab es eine „katholische“ Variante
in den Konvikten? Also machte ich mich auf die Suche nach den
bischöflichen Knabenkonvikten und wurde auf Wikipedia fündig.
Dort steht unter dem Stichwort „Rezeption“: „Der Autor Josef
Hoben (1954–2012) aus dem Bodenseekreis behandelt in seinem
autofiktionalen Roman Lossprechung in einigen Kapiteln den
Alltag im Bischöflichen Studienheim Regina Pacis
anschaulich und wahrheitsgetreu. Der Entwicklungsroman ist
eine Auseinandersetzung mit Jugenderlebnissen des Autors.“
Ich habe mir das Buch gekauft, ich habe es gelesen, und ich war
schockiert. Soviel Leid, so viel Elend, das da zwischen zwei Buch-
deckel gepresst ist, und das alles in „Regina pacis“, bei der
Königin des Friedens in Leutkirch im Oberland.
Das Buch und die darin beschriebenen Um- und vor allem
Zustände haben mich nicht mehr losgelassen. Wie konnte im
Namen der Katholischen Kirche so viel schwarze Pädagogik über
kleine Kinder, genauer über kleine Buben ausgekippt
werden. Ich ging auf Zeugensuche.
„Dieser Roman hat bei mir die verdrängte Kinder- / Jugendzeit,
(in der ich zwar nur 1 Jahr auch im selben Internat zubrachte!)
wieder voll ins Bewusstsein gerückt. Die Vergangenheit hat mich
eingeholt! Aus der heutigen Perspektive von mehr als 4 J
ahrzehnten erscheint es mir geradezu grotesk, mit welchem
Geist und in welcher Weise zur damaligen Zeit sowohl im
Elternhaus als auch im Internat, sowie beim Militär, erzogen
wurde.“ schrieb Wolfgang M. in seiner Rezension
zum Buch.
Ist es also wahr, was Josef Hoben geschrieben hatte?
„Was ist Wahrheit?“ fragt Pilatus Jesus. Es ist der geschickte
Konter auf die Selbstaussage Jesu, dass er gekommen sei,
Zeugnis für die Wahrheit abzulegen. „Jeder, der aus der Wahrheit
ist, hört auf meine Stimme.“ Johannes lässt die Szene mit dem
Weggehen Pilatus‘ enden. Jesus erklärt nicht, was Wahrheit ist,
er lässt also auch uns ein gutes Stück allein mit der Antwort.
Wir wissen, dass jeder Mensch seine eigene Wahrheit hat.
Das gilt auch für den Umgang mit den Ausführungen Hobens.
Die Frage lautet also: Sind sie plausibel?
Mit dieser Frage beschäftigen sich im Bereich des sexuellen
Missbrauchs zwei Menschen, die die Funktion „mit der Vorunter-
suchung beauftragte:r Berichterstatter:in“ haben. Schmerzlich
haben viele Betroffene erlebt, wie die (sicher berechtigte)
Nachfrage eine erneute seelische Qual hervorgerufen hat.
Die Vorstellung, dass den Ausführungen nicht geglaubt wird,
das wurde ganz oft vermittelt im Sinne des Schutzes der
Katholischen Kirche. „ein Priester tut so etwas nicht“, das
war klar, schließlich war er mit der Übernahme des Zölibats als
Lebensform zur Keuschheit verpflichtet. Ich habe keine
Informationen, ob es auch eine Voruntersuchung zu den
Gewalterfahrungen gab oder gibt, die sich in Leutkirch ereignet
haben, zumal an der Spitze der Einrichtung im Zeitraum, den
Hoben beschreibt, zwei Männer waren, die man zur oberen
Führungsebene des Bistums Rottenburg-Stuttgart rechnen darf.
Wir wissen, dass sich Missbrauch in allen gesellschaftlichen
Schichten nachweisen lässt, deshalb ist es nicht auszuschließen,
dass es Täter auch in den höchsten Positionen gab und/oder gibt.
Ich bin weit davon entfernt, einen Generalverdacht auszu-
sprechen, und es liegt mir auch nicht daran, eine „Abrechnung“
mit den Tätern zu machen – mir geht es um das Aufzeigen von
Mustern, von Vorgehensweisen, von fiesen Tricks, wie Menschen
ihre Opfer manipulieren und missbrauchen, das Umfeld zu
schweigenden Mitwisser:innen machen und in der öffentlichen
Wahrnehmung mit Ehren überschüttet werden.
Beispiele aus dem gesellschaftlichen Umfeld kennen wir mittler-
weile genügend, Harvey Weinstein und Dominique Strauss-Kahn
mögen als Hinweis genügen, für die Katholische Kirche will ich
Kardinal McCarrick und auch Bischof Walter Mixa anführen,
Letzterer gab schließlich zu, dass es ein Fehler gewesen sein, „nicht
gleich eingeräumt zu haben, dass er nicht jede körperliche
Züchtigung hatte ausschließen können. Dennoch könne er sich
beim besten Willen nicht an die ‚Prügelstrafen‘, wie sie ihm konkret
vorgeworfen wurden, erinnern. Körperliche Züchtigungen seien
im fraglichen Zeitraum in der Jugendarbeit, gerade auch mit
schwer erziehbaren Kindern, üblich und bis 1980 auch rechtens
gewesen.“
Ob es die Prügelstrafen waren oder der Vorwurf der Veruntreuung
und der Devisenvergehen, die sein Umfeld dazu bewog, ihn aus
dem Amt zu drängen, vermag ich nicht zu entscheiden.
Vielleicht war es ja einfach auch die Kombination der drei Vorwürfe.
Nochmal zurück zur Frage: ist es wahr, was Josef Hoben
aufgeschrieben hat?
Ich habe sie für mich mit einem klaren „Ja“ beantwortet, weil
seine Sicht der Vorgänge für ihn selbst so klar und präsent sind,
dass sie jeder Plausibilitätsprüfung standhält. Außerdem
erschließt sich für mich kein Sinn, warum sich Josef Hoben
als verletzlich, gedemütigt, entfremdet darstellen hätte sollen.
Wenn wir also die Aussagen des Buches als plausibel, als wahr
annehmen, dann wundert es mich, warum trotzdem in den Jahren
nach seinem Erscheinen 1998 keinerlei Anstalten gemacht wurde,
die Vorgänge aufzuarbeiten. Wo ist die Auseinandersetzung mit
den Direktoren, die nach Hobens Aussage gewalttätig waren?
Hat niemand das Buch gelesen oder verschwand es in der
Versenkung, weil den Inhalt niemand wahrnehmen wollte?
Oder haben es eben diese beiden Direktoren geschafft, eine
Beschäftigung mit dem Inhalt des Buches zu unterbinden?
Vielleicht ergibt sich in der Rezeption meines Buches eine neue
Sicht der Dinge. Vielleicht finden sich ehemalige Seminaristen,
die die Inhalte Hobens bestätigen, wenn nicht frei und offen, so
doch vor einer irgendwann eingesetzten Aufarbeitungskom-
mission Vielleicht finden sich „Zöglinge“ anderer Konvikte, die
über ihre Erlebnisse berichten. Und vielleicht sieht dann
schließlich auch die Diözesanleitung mit einem anderen Blick
auf die Verdienste der Direktoren.
Es muss grausam für die Betroffenen sein, wenn sie auf die Zeit
der Gewalt zurückblicken und gleichzeitig die Lobeshymnen wahr-
nehmen müssen, die auf die Täter gesungen werden.
Die Autorin Wiebke Jansen berichtet für den Schwarzwälder Boten aus der
Buchvorstellung:
https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.buch-schwarze-paedagogik-
karlheinz-heiss-schreibt-ueber-kindesmissbrauch-in-der-katholischen-
kirche.25315c0b-a755-4ccf-b05d-4e1e85520737.html
"Schwarze Pädagogik" heißt das neue Buch des ehemaligen Rottenburger
Musikschuldirektors Karlheinz Heiss. Wie schon in seinem vorherigen Werk
"Ein Priester tut so etwas nicht" beschäftigt er sich mit dem düsteren
Thema des Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche.
Rottenburg - Dieses Mal hat er sich auf die Knabenseminare und
Knabenkonvikte konzentriert. Ab zehn Jahren kamen Jungen, vor allem aus
ländlichen Gegenden, in die Schulen, wo sie auf eine Priesterlaufbahn
vorbereitet wurden. Unter dramatischen Bedingungen: Gewalt, Hunger,
Spitzeleien und Einschüchterung waren an der Tagesordnung.
In seinem Buch stellt Heiss vor allem den 1985 erschienenen Bericht von
Josef Hoben heraus, der im Leutkirchner Regina Pacis-Internat war. Die
Geschehnisse könnten aber genauso gut im Rottenburger Martinihaus
angesiedelt sein. Hoben berichtet ausführlich über die Gewalt im Seminar.
"Ich kann nicht vergessen", zitiert Heiss Hoben. Ihrer eigenen Rechte waren
sie sich außerdem nicht bewusst, wie Hoben schreibt: "Wer von uns, die
nichts anderes als Angst kannten, wäre sich bewusst gewesen, welche
Rechte wir hatten?"
Überhöhtes Priesterbild wird aufrechterhalten
Ausführlich berichtet der Seminarschüler Hoben von sexuellen Übergriffen
seitens eines älteren Schülers. Hilfe fand er nicht. Die Lehrer ignorierten es.
Als er seine Eltern um Unterstützung anflehte, gab ihm seine Mutter die
Schuld. "Du hast genauso Schuld wie der andere." Mit diesem
"Nestbeschmutzerparadoxon" wird ein "überhöhtes Priesterbild"
aufrechterhalten, erklärt Heiss bei seiner Buchvorstellung.
Die Opfer, die mit der Offenlegung von Missständen und Übergriffen
dieses Bild ins Wanken bringen, werden dafür sozial geächtet.
"Victimblaming" nennt man dieses Phänomen, wenn das Opfer als schuldig
dargestellt wird. "Ein Priester in der Familie, das war was Besonderes, vor
allem für die Priestermutter", betont Heiss. Um das eigene Prestige, einen
Priester zum Sohn zu haben, zu bewahren, wurde jeder Missstand, der dem
Bild widersprach, ignoriert.
Hoben selbst wurde kein Priester, sondern Schriftsteller
Hoben wurde erst von seinem Peiniger befreit, als dieser wegen Diebstahls
aus dem Seminar flog. Er selbst wurde kein Priester, sondern Schriftsteller.
Für Heiss ist die Frage wichtig: "Stimmt das denn, was Josef Hoben
schreibt?" Plausibel ist es, wenn man es mit wissenschaftlichen
Erkenntnissen vergleicht.
Kurz bevor sein Buch gedruckt wurde, richtete Bischof Gebhard Fürst
zusätzlich zur bestehenden Kommission Sexueller Missbrauch eine
Aufarbeitungskommission ein. Diese sollte unabhängig sein, Heiss glaubt
nicht daran. Die sieben Mitglieder stehen der Kirche mindestens nahe und
wurden vom Bischof ernannt und ausgewählt. Sie sollen die Kommission
sexueller Missbrauch bewerten – teilweise sind sie dort Mitglieder.
Institution "Kirche" und Glauben getrennt
Heiss kritisiert außerdem die anhaltende Hierarchisierung in der Kirche.
"Wir sind gleichberechtigte Menschen in der Gesellschaft und das muss
auch in der Kirche passieren." Passend zum Thema Missbrauch: Dieser
entstehe durch Machtgefälle, der Mächtige begeht einen "Akt der
Demütigung" am Unterlegenen. Heiss trennt dabei die Institution "Kirche"
sauber vom Glauben – aber sieht ihre Rolle in der Gesellschaft kritisch.
Deshalb soll sein nächstes Buch von den Verschränkungen der Kirche mit
Politik und der Presse handeln.